Berliner Zeitung, Feuilleton, 10. Juli 2015
Ortungen einer Fußgängerin
Was ist der Grund für eine Stadt? Warum ist dieser Ort dort? Wie ist ihr Gefüge entstanden? Welche Formen haben ihre Straßennetze? Sind es Raster, Achsen, Strahlen oder Labyrinthe? Welche Schichten der Vergangenheit und Gegenwart haben sich ihren Architekturen eingeschrieben und einander überschrieben? Wie haben Machtrepräsentation, Kriege, Pest oder neue Produktionsbedingungen ihre Struktur geprägt? Haben Flüsse und sieben Hügel die sozialen Topografien von oben und unten bestimmt? Wie hat die Geschichte aus Migration, Industrialisierung und Gentrifizierung die Räume der Zentren und Peripherien gestaltet?
Die Berliner Fotografin Maria Sewcz flaniert durch die Städte, in die sie durch Zufälle, Freunde, Einladungen zu Ausstellungen gerät. In ihren Bildern sind Überlagerungen von räumlichen und zeitlichen Ebenen mit der eigenen Bewegung kombiniert. Fotografieren, ja das Sehen an sich, ist ihr ein körperlicher Vorgang. Der Blickwinkel des Gehenden verändert sich mit der stetigen Verschiebung der Standpunkte, einer Neigung oder Kopfdrehung. Das Erlaufen einer Stadt öffnet die Wahrnehmung für das Gewebe aus Raum und Zeit, Bezüge zwischen Gebäuden und Erinnerungen, Wegen und Ideen blitzen auf. Einmal, als sie Blasen an den Füßen bekam, lief sie tagelang barfuß. Die Erfassung der Stadt mit den Fußsohlen verlieh neue Intensität. Sewcz‘ Aufnahmen sind nicht Behauptungen über das Sein einer Stadt, eher Andeutungen einer Möglichkeit von Vorstellung. Im flüchtigen Augenblick ist die Vergangenheit aufgehoben.
Text von Sabine Vogel
Palimpsest – Überschreibungen
Ausstellung mit Arbeiten von Sabine Beyerle, Daniela Friebel, Varda Getzow, Kerstin Seltmann, Maria Sewcz und Heike Zappe
vom 11. Juli bis 29. August 2015
Galerie Alte Schule Adlershof, Dörpfeldstraße 56, 12489 Berlin