Jörg Sperling, Versehen | 2004

inmitten und anderorts »

Mit der architektonischen Neubespielung des Potsdamer Platzes empfahl sich dieser von Anbeginn, und das nicht allein wegen des Besetzungswillens zur Neuen Mitte, als strapazierbare Leitikone für ein Ganz-Berlin. Die Fotografin Maria Sewcz allerdings hat einer solchen Bilderlesart mit ihrer Werkgruppe „inmitten und anderorts“ aus den Jahren 1996/98 nichts hinzuzufügen. Im Gegenteil, sprengt sie die Statik der Aufrichtungen jener baulichen Superzeichen mit einer harschen, subjektiven Wende des Sucherblicks. Sie lichtet in die Anfänge, die Umgebung, dem Grund entgegen.
Doch unversehens scheint sich der Bauboom am zentralen Punkt mit dieser Folge von Aufnahmen in einem Wirrwarrspiel zu verlieren. Und logischerweise führen die fotografischen Bilder für mich damit in die entgegengesetzte Richtung, anstatt die pseudoromantische Schaustellenatmosphäre (die künstlerisch sich wiegenden Kräne haften noch heftig in der Erinnerung) weiter zu kultivieren, welche sich von diesem Ort aus vielfach verbreitet. Ja, vor unseren Augen verschwindet die sonst normalbildlich ausgefeilte, also ästhetisierte Baugeschäftigkeit samt Materialpathos in teils atomisierte „Nebenschaustellen“. Keinerlei Platzhalter steht da mehr fest hineinkomponiert im Bildmittelgrund, um die unumstößlichen Bedingungen für den Wiedererkennungseffekt zu errichten. Manchmal gar wirken die bewusst in Schwarz-Weiß festgehaltenen Fotografien der Künstlerin, als wären sie nur versehentlich auf den Film geraten und keineswegs das eigentliche Bildprodukt. Aber weit gefehlt: Es handelt sich nicht im entferntesten um ein Versehen. Setzt doch die künstlerische Strategie auf eben diese Täuschung im aller ersten Augenschein, als hätten wir uns beim ersten Hinsehen geirrt, eben versehen. Denn nach oberflächlichem Abnaschen, also mit eingehenderer Betrachtung, erweisen sich die so zufällig aufgenommenen, manchmal wie aus der Hüfte geschossenen Fotografien als sehr genau komponiert und in der Ausschnittauswahl sowie bis ins zudringliche Detail als sehr präzise. Was also dem Zufall überlassen schien, gibt sich gleichwohl als das intuitiv Zufallende zu erkennen.
Manchmal, wie bei jener Aufnahme mit dem Tiefenblick auf Gründungsarbeiten, wird das Bild mit einem irritierend querlaufenden Balken im Vordergrund oder anderen Störelementen versehen. Läßt das, nebenbei gesagt, nicht an jenes viel zitierte Brett vor dem Kopf denken? In solcher Art scheinen sie zunächst den Blick auf das Eigentliche, das Dahinterliegende nicht oder nicht ganz freigeben zu wollen. Aber dies wirkt nur so, denn im Springen der Distanzen zwischen fern und nah, in der Unschärferelation, gewinnen die irritierten Details, die abgelichteten Realien in der Bildbeziehung auf einmal andere Bedeutungsweisen hinzu oder geben verfremdet nicht ihre eigentlichen preis. Da entfaltet die Perspektive auf das Fundament etwas Miniaturisierendes und nur weit hinten sind, abgetrennt durch das in leichter Unschärfe liegende Querholz, einige Bauarbeiter am Werk wahrzunehmen. Die Szene erscheint nun aber, als hätte eben dieser Bildbereich mit der vorderen Grundfläche nichts zu tun und enthebt damit die Situation des reellen Grundes. Mit solchen optischen „Verschiebungstricks“ operiert die Künstlerin sehr vielschichtig. Das Bauwesen kann sich schon mal in ein Wunderwesen verwandeln.
Passagenweise offenbart sich für mich hierin weniger eine eigentlich dazugehörige Technikeuphorie, als vielmehr die Versessenheit darauf, die unterschiedlichsten
Materialpräsenzen, in Schimmer und Struktur, zwischen mikroskopischer Textur und greifbarem Chaos, hervorzulocken. Das ungewöhnliche Hineinlichten der Fotografin Maria Sewcz schafft intensive Anwesenheit, die sich quasi als Funke direkt auf den Betrachter überträgt. Ein Beispiel mag jener Einblick geben, der die verworrene Ecksituation eines Bassins zum Gegenstand hat, in welches das Grundwasser abgepumpt wird. Wir stehen vor einem, von etlichen Diagonalen durchkreuztem Geschehen. Der Blick tastet sich durch und durch, landet jedoch immer wieder an jener Stelle unterhalb der Bildmitte, dort, wo das hell aufsprudelnde Wasser aus dem Pumpenrohr tritt und nach unten ins Becken schießt. Das technische Drumherum fällt auf einmal ab vom glitzernden, kraftvollen Strahl, um ihn dann plötzlich wieder, eh wir uns versehen, einzurahmen und zu kommentieren. Insbesondere die baustaubige Kante im unteren Bildstreifen steigert das In-Erscheinung-Treten des Wassers, in seiner gischtigen, schaumigen und grau-glatten Form. Jede Einzelheit erweist sich als Zuträger für einen Mikrokosmos, der ganz unauffällig, „nebenbei“ auf der Baustelle am Potsdamer Platz in Erscheinung tritt.
Mit der Reihung, die für die Präsentation der fotografischen Tafeln vorgesehen ist, arbeitet die Künstlerin zudem mit perspektivischen Brüchen, so dass im Nebeneinander weitere Verschränkungen und gleichviel Irritation zu entspringen vermag. Neben den Baubildern gibt es beispielsweise den Blick in das versehrte Laubgehäuse eines jener zurechtgestutzten Bäume, die wir überall ausfindig machen können. Überhaupt trägt die Künstlerin den verdeckten Zentrumsbildern auch Aufnahmen aus anderen ringsherum liegenden städtischen Bereichen als Kontrapost zu, wie den Blick in den Hinterhof mit Sonnenschnittkante. Dagegen steht wiederum jene durchrasterte Fassade, die sich im gegebenen Anschnitt zur unübersichtlichen Mikrostruktur einer Leiterplatte verfremden kann.
Einen weiten Gesichtskreis spannt die Werkgruppe aus, die für mich als künstlerische Feldforschungen anzusprechen wäre. Ja, die Fotografin hat vor Ort versucht, den genius loci in seiner widersprüchlichen Umbruchsform aufzuspüren. Und es ist immer wieder der unverhoffte Blick auf den schlingernden Bahnen des Alltäglichen, der noch uneingebildet und unvermutet beweglich ist, vielleicht wie bei einem Kind, das die Welt in Verwunderung und phantastischen Sprüngen anzuschauen vermag.
In der ungewohnten Auffassung des Bildzustandekommens, wandeln sich diese Baustellenfotos quasi selber zu „Bildbaustellen“. Das macht die Stärke der Herangehensweise der Fotografin aus, wenn wir Betrachter im Bildgeschehen etwas im Betrachtungsvorgang verborgenes aufdecken können. In jener Hinsicht werden die Fotografien zu strukturellen Metaphern, zu Entsprechungen des Sehvorganges selbst, wie ihn die Psychologie heute beschreibt: Vorgewußtes, Eingebildetes und Geschautes ergeben erst die Melange, die man Bild nennt.
Andererseits sind Baustellen der lebende Beweis, dass der Bauwille, dass die Gebäude, so statisch und gar ewig sie wirken, Prozesse darstellen. Und genau jenen Moment des Prozesshaften zwischen Werden und Vergehen kehrt die Fotografin mit unterschiedlichen Mitteln wieder und wieder hervor.
In diesem Sinne zeigt das Herkunftswörterbuch mit dem Begriff „versehen“ in seiner altdeutschen Form noch eine andere, auch unverhoffte Rückführung auf, nämlich als „farsehan“ oder „firsehan“ bedeutete er einst „hoffend, erwarten, vertrauen“. Was könnte besseres in Anbetracht der Bilder von Maria Sewcz eintreten, als solch ein
Besinnungsmoment.

Jörg Sperling zur Ausstellung inmitten und anderorts,  Berlin 2004

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