Eugen Blume, hier und darüber hinaus | 2006

schnitt blume – topf pflanze »

Immer wieder ist es erstaunlich für mich zu sehen, wie anders eine Fotografin oder ein Fotograf in die Welt sieht. Dass mag manchem eine einfache Feststellung sein, ich empfinde in ihr eine ernsthafte und letztlich für mich nicht zu beantwortende Frage. Wir alle sehen unsere Umgebung mehr oder weniger aufmerksam an, jeder von uns kennt auch den Wunsch, sie fotografisch festhalten zu wollen und die Enttäuschung, dass eigentlich auf unseren Fotografien nichts zu sehen ist von dem, was wir festzuhalten versuchten. Wohin ist es entschwunden und warum hat es sich nicht abbilden lassen? Maria Sewcz, die ich letzte Woche besuchte, erklärte mir, dass sich überall etwas ereignet, was für eine Fotografie im künstlerischen Sinne taugt, auf dem Fensterbrett, unter dem Tisch, an einer Teppichkante auf der ein Stuhlbein steht, im Hof und im Himmel. Hier fängt es an, unmittelbar dort, wo ich gerade bin, beginnt das besondere Sehen und das will nicht gelernt sein, sondern man muss es sich aneignen, wie das Schreiben eines Gedichts, das nicht unbedingt aus der Kenntnis der Reimarten schon zur Lyrik wird. Wie aber komme ich zu einem solchen Blick? Durch das Mitsehen oder durch das Sehen von Fotografien, sie sind eine Schule des Sehens, weil sie nach unserer einfachen Auffassung von Wahrnehmung das Auge simulieren. Wir sehen vermeintlich durch das Auge der Fotografin auf die Welt, auf eine Welt die wir kennen, weil wir uns wie sie täglich darin aufhalten. Aber haben wir jemals schon exotische oder ländliche Schnittblumen vor dem Fenster so gesehen, wie sie Maria Sewcz fotografiert hat? Unsere Augen haben kein Objektiv und der Ausschnitt ist immer gleich, es sei denn, wir leiden unter einer Sehstörung. Durch unseren Sehsinn, der der Wissenschaft bis heute ein unverständliches Wunder ist, sind die Dinge gleich berechtigt der Anschauung preis gegeben, nichts wird hierarchisiert. Will ich es, muss ich den Blickwinkel verengen, herangehen, mich bewegen, aber nur um besser sehen zu können, nicht um das eine dem anderen den Vorrang einzuräumen, zu vielgestaltig ist die Welt.

Obwohl Maria Sewcz auswählt, die Gegenstände nahzieht, Menschen von Ferne und der Nähe fotografiert, ist kein bevorzugtes Sujet, gleichwohl aber eine Handschrift erkennbar, wenn man die auslösende Hand in ihrer Beziehung zum Auge hier ins Spiel bringen darf. Es sind die Blumen über eine Strecke ja, es ist die Stadt in einer ganzen Folge und es ist Las Vegas und Los Angeles, weil sie dort aus bestimmten biografischen Gründen hingekommen ist, aber es könnte auch der Hof hinter dem Haus bleiben, alles ist mit der gleichen Intensität gesehen. Nichts lässt sich von der hinterhältigen Exotik des angeblich so noch Nichtgesehenen, der strategischen Vorstellung eines abstrusen Wirklichkeitsausschnitts korrumpieren. Sie setzt nicht auf diese spekulative, oftmals gut funktionierende Linie. Das darüber hinaus im Titel der Ausstellung ist nicht im Sinne von neuen Rekorden oder der Überschreitung von Grenzen gemeint, sondern ist ohne das Hier nicht denkbar. Das Auge am Hier geschult, sieht den nachgebauten über ein Haus schreitenden Eifelturm in Las Vegas mit dem gleichen Erstaunen, wie den verschneiten Alexanderplatz von weit oben und das zackige Grün der Tomaten vor dem Wohnzimmerfenster. Wenn das Hier nicht scharf bleibt, hilft Los Angeles nicht weiter. Sich durch das uns Fremde aufladen zu wollen, hieße lediglich einem Tourismuskonzept zu folgen, was das Ende einer jeden Kunst bedeutet. Natürlich ist der Blick nicht esoterisch, verwandelt er nicht alles, was er ins Auge fasst in ein energiereiches Bild, sondern er wählt aus. Diese Auswahl ist einem gewissen Intellektualismus geschuldet, der nicht alles für gleich interessant hält. Der Blick für die besonderen Situationen, Konstellationen, Beziehungen, die die Dinge untereinander eingehen,  verbindet sich mit der inneren Aufladung durch das Denken über die Welt. Ohne dieses diskursive Verhältnis sieht das Auge nur kindlich, es muß aber erwachsen werden, ohne sich schuldig zu machen. Es muß vor allem jeder Lüge gegenüber abstinent sein, das ist die eigentliche Kunst. Das Leben, was uns Maria Sewcz fotografiert, ist voller Irrtümer, Lügen, Hässlichkeiten, aber nicht dieses psychosoziale Vokabular einer kritischen Weltsicht fällt mir angesichts ihrer Fotografien ein, sondern im Gegenteil, ich denke nicht an eine derartige Bewertung, was nicht heißt, dass sich alles auf eine sonderbare Weise umkehrt, sondern das Hässliche bleibt hässlich und das Banale bleibt banal, nur wie es angesehen wird, ist weder hässlich, noch banal und daraus kommt eine Schönheit, die nicht die Wirklichkeit der gesehenen Gegenstände und Menschen und was auch immer aufhebt, sondern lediglich eine andere Perspektive einnimmt, die dem unscheinbarsten Wirklichkeitsausschnitt etwas und das klingt vielleicht pathetisch, würdiges gibt. Was die Fotografien von Maria Sewcz auf eine wohltuende Weise vermeiden, ist der ideologische Blick. Den Dingen ihre Würde zu lassen, entspringt nicht einer Ideologie, einem Programm, sie so sehen zu wollen. Sie sind völlig aus jeder Art von Sentimentalität herausgetreten. Sie zwingen mir keinen bestimmten, etwa den Maria-Sewcz-Blick auf, sondern sie bleiben eine Möglichkeit, die Welt zu sehen. Das Triptychon der Ausstellung ist mir als Betrachter äußerst wertvoll: da ist zum einen der Blick auf die seltsamen Schnittblumen, die schon hingerichtet sind und nur noch kurz zu leuchten haben, deren Namen wir nicht kennen. Wir wissen auch nicht, unter welchen Bedingungen sie so werden, wie wir sie gerne haben. Über das Licht, das sie wunderbar hervorhebt, über den kleinen Zauber, den wir uns im Blumenladen leisten, machen wir uns wenig Gedanken.

Die Mitteltafel, wenn sie so wollen bilden die Flaneurbilder, das Streifen durch die Stadt Berlin und das Sehen ihrer Besonderheit. Jeden Tag haben wir diese Chance, ohne dass wir etwas festzuhalten verstehen. Die Stadt ist der real existierende Surrealismus immer gewesen. Es mischen sich Dinge, die im realen Leben nie eine Begegnung wagen würden, ginge es nach unserem Ordnungssinn und die dennoch, wie von selbst, die Autoren dieser Konstellationen sind uns unbekannt, diese Beziehung suchen. Der fotografische Blick suggeriert geradezu das fantastische Eigenleben unserer inflationären, offenbar wahnsinnig gewordenen Dingwelt, könnte man ihnen eine derartiges Geistesleben unterstellen. Blickt man von da aus auf die Interieurs zurück, wird man ein ähnliches, zufällig surreales Prinzip entdecken, eine korrespondierende Raumgestaltung von innen nach außen und umgekehrt. Ich will nicht behaupten, dass Maria Sewcz eine surrealistische Fotografie betreibt, ganz und gar nicht, der Surrealismus war ein Programm, das sich schließlich politisierte, ihre Fotografien haben eben kein Programm in diesem Sinne, sie sehen vielmehr das surreale Moment in seiner unprogrammatischen Absichtslosigkeit. Nichts steht im Banne eines Ich oder Überich. Es, das Gesehene, hat sich vielmehr eingestellt.

Die letzte Tafel des gedachten Triptychons geht über all das scheinbar hinaus, aber in dem Wort „darüber“ wird schon deutlich, was die Brücke bildet. Eine einfache Wahrheit: das Hier nehme ich mit, wohin ich auch gehe. Es war vor allem klug, Las Vegas und Los Angeles in schwarzweiß zu fotografieren, der Tünche zu entrinnen, die alles auf eine unerträgliche Weise vor einem tatsächlich unglaublich blauen Himmel und dem reflektierten Licht der Wüste und der Wasser optimistisch macht. Die Farbe scheint hier, obwohl sie ein unabweisbarer Bestandteil der Natur ist, ein ausgedachtes Instrument des absoluten Vergnügens zu sein. Will man aber das sehen, was Maria Sewcz sehen wollte, muß man sich ganz selbstverständlich von der Farbe verabschieden. In dem plastischen Schwarzweiß sieht man, als hätte man eine Brille ab- oder aufgesetzt, schärfer. Trotz der anderen Pflanzen, der chaotischen Architektur, der wilden Bauphantasien erscheint uns nach längerer Sicht, das alles darüber hinaus so wie hier ist, wie sollte es auch anders sein.

Rede von Eugen Blume zur Ausstellungseröffnung  hier und darüber hinaus,  Galerie im Prater,  Berlin 2006

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