Eugen Blume, zur Ausstellung JETZT, BERLIN | 2016

…  Wenn die ersten Mandelbäumchen blühen sehen wir nach oben und vor dem blauen Himmel ist etwas Chinesisches, eine kostbare Seidentappiserie, die den Alltag erfreut. So könnte eine Liebeserklärung an eine ungewöhnliche Stadt beginnen, die eben nicht hat, was andere Städte zum Symbol erhoben haben, einen Eifelturm oder das Empire State Building.

Die Fotografien von Maria Sewcz halte ich deshalb für ungewöhnlich, weil sie den Blick festhalten. Man könnte allerdings mit recht meinen, dass das Fotografie allgemein auszeichnet. Ich meine nicht den Blick durch die Kamera, sondern das Blicken auf etwas, das keinerlei Absichten hat, sondern sich erst im Sehen bewusst wird, etwa der Unbekannte, der vor uns die Sicht versperrt auf die Bühne und dessen Kopf durch die Bühnenscheinwerfer von einer Aureole umstrahlt wird oder die Blutstropfen am Hauseingang, genau auf der Ecke wo die Steinschwelle vom Kleinpflaster umgeben ist. Ein zufälliger Blick nach unten findet diese Indizien von was wissen wir nicht zu sagen, Reste von der letzten Nacht vielleicht und irgendwo ein Mensch und ein Schicksal, das wir nie kennenlernen werden. Genauso das rote Licht hinter den beschlagenen Scheiben auf dem Oberdeck eines Linienbusses, kurze Momente, die wir beim Warten auf die Ankunft wahrnehmen und wieder vergessen. Und endlich jene Kulisse, die wir Touristen anbieten könnten, ein erstaunliches Panorama, Dom, Schlossbrücke, Marienkirche, das Hotelhochhaus am Alexanderplatz, die Humboldtbox und das Rote Rathaus, durchgestrichen von einem blauen Abwasserrohr einer der vielen Baustellen, eine Staffelung und Überlagerung, wieder nur ein Blick im Vorübergehen, aber präzise, der Blick wird, sich seiner selbst gewahr werdend, zur Fotografie. Nichts für die Tourismusindustrie und nichts für die affirmative Bildauffassung der Werbung.

Ein Detail aus der zukünftigen Schlossfassade, aufgestellt als Beispiel gegenwärtiger Nachschöpfung, barocke Fantasie, Löwenhaut des Simson aus Sandstein, herunterhängend als Schmuck über dem Fenstersims. Auch hier der Blick nach oben, der sich dem Detail hingibt und staunt. Das barocke Relief ist spektakulär auf die Zukunft hin, aber nur für den Eingeweihten, der weiß, was hier im Stadtraum entdeckt wurde. Die meisten Fotografien dieser Hommage an das gegenwärtige Berlin zeigen scheinbar nebensächliches wie der nächtliche Blick durch ein innen erleuchtetes Absperrgitter möglicherweise einer Tiefgarage oder der Anlieferung eines Supermarktes. Bei vielen dieser Fotografien vermutet man keine Kamera, weil es unwahrscheinlich scheint, dass jemand die Kamera etwa auf Plastikkleiderbügel auf einem straff gespannten Drahtseil richtet und dieses Stilleben überhaupt für bildwürdig hält. Alltagsdinge, die jedoch überraschend zum Bild werden, abgerissene Zettel etwa, die Großaufnahme von Haut, eine Zimmerecke, ein angeschnittenes Gesicht auf einem Plakat und schließlich die Winterwege auf dem bestreuten Alexanderplatz von oben gesehen wie Schienen der Straßenbahnen die vor dem Krieg auf diese Weise den Platz kreuzten. Diese Ausschnitte aus einem Stadtleben, die Sammlungen von Momenten, sind eindrückliche Erkundungen. Sie erzählen mehr als jeder Versuch, die prägnanten Signets zu verewigen, die nur einer touristischen Inflation dienen.  …

Aus dem Text von Eugen Blume zur Eröffnung der Ausstellung im Haus am Kleistpark, Berlin, 17.3.2016