Barbara Straka, Auf den Punkt bringen. | 2004

de / en

[…] Bilder, die schneiden.  Radikale Schnitte und ungewohnte Konfrontationen bei der Motivwahl sind ein ästhetisches Grundprinzip von Maria Sewcz. Schon bei der Entscheidung für ein Bilddetail scheint es, als sei dieses aus dem ursprünglichen Kontext gewaltsam herausgeschnitten, vom Ganzen unwiderruflich getrennt. Das Abschneiden, Auf- und Einschneiden gehört zu den Alltagstechniken, aber es hat immer etwas Gewaltsames, Gemeines, Lebensfeindliches. So kann man angesichts seiner brutal durchgeführten Amputationen einen Baum in der Fotosequenz Tagelauf (Berlin 1996-98) kaum noch als Baum erkennen – was bleibt, ist ein bis zur Unkenntlichkeit entstellter Torso mit aufragenden Stümpfen, die links oben perspektivisch knapp von drei Hochspannungsleitungen geschnitten werden. Dessen nicht genug: In der Serie Tagelauf klappt Maria Sewcz alle Motive, ob Hoch- oder Querformat in die Horizontale und montiert jeweils zwei zu Bildpaaren nach einer undurchschaubaren, rein formal getroffenen Entscheidung. Ebenso verfährt sie mit Stadtmotiven, Stillleben und Porträts. Es ist wie ein Memoryspiel, bei dem nur die Künstlerin weiß, was zusammengehört. Dabei ist das Gesetz ganz einfach: „Die Reihenfolge der Aufnahmen“, so Maria Sewcz, „entspricht der realen Abfolge von Erlebnissen, wie sie im fotografischen Film dokumentiert sind. Durch die systematische Produktion des zunächst Zufälligen werden visuelle Gegensätzlichkeiten sichtbar, die meine Vision des Urbanen, Elementaren und Sozialen in sich bergen. Die Bildpaare formulieren Zusammenhänge, die über das real Wahrnehmbare hinausführen und zugleich davon abstrahieren. Durch die friesartige Präsentation entstehen verschiedene assoziative Konstellationen“. Paradoxerweise entstehen also die Schnitte und Trennungen der Bildmotive durch die Kameratechnik genau in dem Moment, wenn der fotografische Film eigentlich weiter läuft, weiter transportiert wird. Das jeweils nächste Motiv ist bei diesem Arbeitsprinzip unbestimmt und unvorhersehbar in der Reihenfolge und doch intuitiv besetzt und bestimmt in der Auswahl. Somit spielt der kalkulierte Zufall im Werk von Maria Sewcz neben dem technischen Automatismus der Kamera eine bedeutende Rolle.

Seit dem Surrealismus und Dadaismus wird nicht nur der „Zufall“ methodisch genutzt; seit Erfindung von Collage und Montage in den 1920er Jahren werden auch Alltagsgegenstände wie Messer und Schere, Illustrierte und Zeitung neben Pinsel und Leinwand zum Werkzeug der Künstler. Schrift und Foto kommen als gleichgewichtige Elemente ins Bild, die als „Zitat“ der Wirklichkeit deren „Erfindung“ – angesichts der Zeitereignisse – in ihrer Wirkungsmacht in den Schatten stellen. Vor allem in Hannah Höchs dadaistischem Anti-Historienbild Schnitt mit dem Küchenmesser DADA durch die letzte weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands (1919/20) wird die Welt auf den Kopf gestellt und die marode Gesellschaft erbarmungslos seziert – mit der Waffe einer (Haus-)Frau. Im Verismus malen die Künstler, symbolisch gesprochen, mit dem Skalpell, das allein Trennschärfe bei der Wirklichkeitsanalyse verspricht. Als Anatomen dringen die Realisten in den Funktionskreislauf der Gesellschaft ein, denn „die Realität“, so Brecht, war längst „in die Funktionale gerutscht“. Luis Bunuels Filmbild eines Messerschnitts durch ein menschliches Auge (Un chien andalou, 1925) erhebt das Sezieren des Wahrnehmungsorgans selbst zur Hauptaufgabe künstlerisch operativen Handelns. Nicht nur das Wahrgenommene, die Wahrnehmung selbst muss mit gebotener Schärfe analysiert werden, heißt die Botschaft der Stunde. Ein prophetisches Bild: das an Reizüberflutung leidende Sehorgan des Menschen wird zerstört, die eindringenden Sinneseindrücke ausgelöscht: Burnout der Bilder.

Bilder, die fliehen / Bilder, die bleiben.  Diese destruktive Geste des Zerschneidens und Zerstörens, transportiert im ästhetischen Erbe der Moderne, bleibt indessen nicht das übergeordnete Prinzip für das fotografische Werk von Maria Sewcz. Sie findet durchaus Formen neuer und ungewohnter Zusammenhänge, Sehweisen, die Spuren hinterlassen und Bilder, die sich wie Brenngläser in das visuelle Gedächtnis einprägen. Ihre Wahrnehmung und Darstellung der Welt gleicht einem Film, der löcherig ist, Leerstellen hat und animieren will, unsere eigenen Bilder dort einzusetzen: „Auf der Suche nach dem Finden von Bildern konzentriere ich mich auf Alltäglichkeiten, die unbemerkt übergangen werden – die ich fotografisch zu bestimmen versuche, um sie im Bewusstsein zu plazieren. Momente, verstrichene, vergessene, werden existent. Sie transportieren Zustände von Zeit“. So liegt es nahe, dass sich Maria Sewcz inzwischen auch mit Videofilmen beschäftigt, in denen sie unmerkliche Beobachtungen, Alltagssituationen und Handlungsabläufe zum Thema macht, die vom Scheitern, vom Ritual und der immer wieder kehrenden Erfahrung der Vergeblichkeit erzählen – etwa die im Loop montierte Szene eines auf engem Hinterhof mit seinem Roller kreisenden Jungen, der immer wieder an der selben Stelle kippt und stürzt.

Wie im Video das Kreisen in immer engeren Zirkeln zum Verlust der Balance führt, so stecken viele der Fotografien von Maria Sewcz voller Bewegungsenergie, die Fliehkräfte entwickelt und förmlich den Bildraum sprengt, um über sich selbst hinauszuweisen in die äußere Realität. Andere Aufnahmen sind von großer Ruhe und Beharrlichkeit; sie konzentrieren den Blick und dulden keine Ablenkung – zwei gegenläufige Prinzipien im Werk von Maria Sewcz, die vielleicht auch Einflüsse der politischen Ereignisse in der ehemaligen DDR auf die eigene künstlerische Sozialisation und Seherfahrung in sich tragen. Denn das Lebensgefühl und die Alltagswahrnehmung vor der „Wende“ 1989, die sich anstauenden Zeichen der Veränderung in der ideologisch verfestigten Gesellschaft des „real existierenden Sozialismus“ bis zu ihrem Umschlagen in eine als freiheitlich demokratisch antizipierte Gesellschaftsform, erlebten viele Intellektuelle und Künstler als eine Zunahme des „Flüchtige(n) im Sehen, Erleben, Erkennen (…) je unüberschaubarer die Prozesse werden: Es gab Zeiten, da wäre es möglich gewesen, jedes Buch zu lesen, jedes Foto, jeden Film anzuschauen. Heute reicht ein ganzes Leben nicht aus“ (3).

Hier setzen die Fotografien des ausschnitthaften Details von Maria Sewcz an: Sie bieten flüchtige Blicke eines Streifzugs durch das Alltagsleben, keinen Aufschluss über Wirklichkeit, keine Anklage. „Point out“ ist ihre Devise, mit Fotografien Blickdichte schaffen und Hinweise geben – mehr nicht. Dann muss die Arbeit im Auge des Betrachters beginnen. Sie weiß, dass die künstlerische Behauptung von Zusammenhängen, von Ursachen und Wirkungen allzu leicht der Illusion unterliegt. So lenkt und verdichtet sie ihren Blick lieber „auf unscheinbare Teile eines Ganzen, verweist auf Dinge und Begebenheiten, die übersehen werden, nebenherlaufen. (…) Faszination vertrauter Trostlosigkeit. Gefühl unentrinnbaren Alltags. Milieu, Stimmungen. Lebensspuren – daraus erwächst Abstraktion, die auf Konzentration zielt. Die Sprache dieser Fotografie ist hart und ungeschmeidig. Der Magen zieht sich zusammen beim Empfinden von Achtlosigkeit und Kälte, Oberflächen schwanken“ (4).

Charakteristisch für dieses Schwanken sind Schräglagen der Komposition, kreuzende Bilddiagonalen, extreme Ober- oder Untersichten, stürzende Bewegungen: aufbrechende Bildwelten, Spiegel eines aus den Fugen geratenen Weltbildes. Das Schwanken der Oberflächen ist somit lesbar als Ausdruck von Bodenlosigkeit, einer Lebens- und Seherfahrung in Zeiten der Umbrüche, positiv wie negativ. Schon einmal, in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, hatte ein Wechsel der Perspektive in Kunst und Fotografie einen Wechsel der Zeiten kommentiert: 1918, mit dem Beginn der Oktoberrevolution, widergespiegelt in den utopisch motivierten, expressiv komponierten und ideologisch befrachteten Fotografien und Filmen der sowjetischen Avantgarde. Dieses Unternehmen gigantischer Sozialutopien war Ende des 20. Jahrhunderts gescheitert und mit der Auflösung der Sowjetunion und der DDR in die Konkursmasse der Geschichte eingegangen. Maria Sewcz gehört einer Generation von Künstlern an, die die Ausläufer dieser Umbrüche hautnah erlebt haben – als „Wende“. In ihren Bildern findet sich nichts Enthusiastisches, sie sprechen die stumme Sprache der Desillusionierung, sind kühl und unprätenziös in ihren Beobachtungen. Die „Perspektive“, weiß Maria Sewcz, ist jetzt kein verlässliches Konstrukt menschlicher Übereinkunft mehr, sondern ein gesellschaftliches Problem; sie ist ins Schwanken geraten, unverbindlich geworden. Sie ist Sache jedes einzelnen. Sie erfasst den ganzen Menschen. Es ist die eigene Körperbewegung, mit der Maria Sewcz dieses Schwanken einfängt, die zu Alltagsthemen und Zufallsprinzip im Augenblick der Aufnahme hinzutritt und die Haltlosigkeit und Brüchigkeit heutiger Realitätserfahrung noch im Fliehen einfängt, um sie im Bild zu bannen.
[…]

3. Gabriele Muschter, … damit ich dich besser sehen kann, in: dies. (Hrsg.): DDR. Frauen fotografieren, Berlin (ex pose), 1989, S. 14
4. Gabriele Muschter, ebd.

Aus dem Text  Auf den Punkt bringen. von Barbara Straka in:  point out,  Fotografien von 1985–2004,  Maria Sewcz,  jovis-verlag,  Berlin 2004

top