Eckhart Gillen, Annäherungen an Rom | 2012

Roma–vm. 365/39/51 masw  »

Wie nähert man sich der „ewigen“ Stadt Rom? Sigmund Freud, der sieben mal in Rom war, faszinierte die methodische Nähe von Archäologie und Psychoanalyse: „wie der Archäologe aus den im Schutt gefundenen Resten die einstigen Wandverzierungen und Wandgemälde wiederherstellt, genauso geht der Analytiker vor, wenn er seine Schlüsse aus Erinnerungsbrocken, Assoziationen und aktiven Äußerungen des Analysierten zieht.“ Die Reisen in die Welt der Antike verstand Freud daher als Expeditionen ins Innere, in die Landschaften der Seele. Sein Prinzip, „dass im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann“, illustriert Freud nun mit der „phantastischen Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist“. Alle diese Überreste des alten Roms existieren also noch als Einsprengungen in das Gehäuse einer Großstadt. Eine Aufnahme von Maria Sewcz bestätigt diese Vermutung. Sie zeigt eine Buchhandlung in der mittendrin ein Stück alte Stadtmauer steht. Diesen Spuren und Schichtungen folgt sie mit Spürsinn und Genauigkeit des Blicks in der Gewißheit, dass das Alte gewiß noch im Boden der Stadt oder unter ihren modernen Bauwerken begraben ist.

Extrem auseinander fallen die Erwartungen an Rom: Der katholische Dichter Werner Berggruen betrat 1949 Rom noch mit „ungeheuerlichen Erwartungen […] in einer erhöhten Verfassung des Gemüts“, der Popdichter Rolf Dieter Brinkmann 1973 dagegen ignoriert und verachtet Rom. Er spricht von „bombastische(n) Anlagen der Architektur, in weißlichem Stein gefrorene Kunstwerke, aus denen überall Nässe herausrieselt, … alte verstaubte Gemäuer“. In der Villa Massimo sieht er nur einen einfachen Ort, wo er leben und arbeiten könnte.
Maria Sewcz dagegen kam mit Freuds Modell der Schichtungen im Kopf, aber mit offenen Sinnen, neugierig und unbefangen nach Rom. Von Brinkmanns penibel in Stadtpläne eingezeichneten Wegen und Erläuterungen in seiner postum 1979 erschienen Briefsammlung Rom, Blicke angeregt, plant sie auf den weißen Wänden ihres Ateliers ihre Exkursionen durch das ungeheure Labyrinth der Stadt mit Postkarten und Skizzen. Zu Fuß flanierend, kreuzt sie auf ihren Passagen durch die Stadt Raum und Zeit, erfasst mit ihrem Objektiv Erhabenes und Banales, Altertum und Alltag.
So empfanden auch die Zeitgenossen im 18. Jahrhundert Giovanni Battista Piranesis Romveduten als bewunderungswürdig und befremdlich zugleich, weil er es verstand, das Erhabene wie das Abgeschmackte durch ihre wechselseitige Spiegelung zu potenzieren. Lady Anne Miller fand ihn „so lächerlich akkurat in Nebensächlichkeiten, dass er etwa die schönen Proportionen, welche die Säulen am Portikus des Pantheons auszeichnen, ganz und gar ruiniert hat, indem er auf seinen Radierungen auch alle die dort angeschlagenen Zettel untergebracht hat.“
Auf den Bildern von Maria Sewcz stoßen römischer Alltag und eine tausendjährige Geschichte nach dem Prinzip von Zufall und Komposition zusammen. Mit einem genauen, phänomenologischen Blick für Pflastersteine und Mauerwerk, Texturen und Spuren der Geschichte entdeckt sie verblüffende Konstellationen und groteske Situationen: Auf den antiken Sarkophag in einer Industrielandschaft folgen Einblicke in einen Sonnenbrillenshop mit dem kühlen Charme eines Hallenbades oder das Telefongespräch mit dem Sohn über Skype. Der schlafende Hermaphrodit schwebt über den auf der Piazza Vittorio Emanuele II ausgebreiteten Teppichen, auf denen das Fastenbrechen der römischen Muslime gefeiert wird. Der vergoldete Fuß der Maria Magdalena kreuzt sich mit dem Vorortzug, der Blick auf die Decke des Palazzo Farnese über den auf einem Tisch installierten Spiegel mit dem Frauenkopf einer Werbefläche auf einer Hausfassade.
Auf der Innenseite dieses Kataloges verweist eine geheimnisvolle Buchstaben-Ziffern-Kombination Roma–vm. 365/39/51 masw, die an das in Bibliotheken gebräuchliche Sigel, eine Kurzbezeichnung von Nachschlagwerken und Werkausgaben erinnert, auf einen Folianten, in dem Maria Sewcz die erste Quersumme Ihrer Rom-Erfahrung zusammengestellt hat. VM. steht für Villa Massimo, wo sie für 365 Tage eingeladen, aber 39 Tage nicht anwesend war, und die 51 bezeichnet die Zahl der Bilder, die sie mit dem Tintenstrahldrucker auf schweres Hahnemühle-Papier aus Baumwolle gedruckt und im Folioformat gebunden hat. Nach ihrer Rückkehr im Februar 2012, hat sie im Martin-Gropius-Bau den Besuchern der Bilanzschau mit den Arbeiten der Stipendiaten aus dem Jahr 2011 den Band nach hinten umschlagend aufgeblättert. Mit dieser Aktion hat sie, auch ihren Katalog für diese Ausstellung, die übliche Form des Blättern von rechts nach links hinter sich gelassen und die Präsentation zu einem performativen Akt gemacht, der ihre persönliche Präsenz erfordert.
Die Idee mit dem Folianten kam ihr beim Besuch der vatikanischen Bibliothek. Vorbild für die Folge unterschiedlich großer Fotografien sind Giovanni Battista Piranesis bereits erwähnte Vedute di Roma. Die 137 Tafeln haben auch ganz unterschiedliche Formate und wurden von den Besitzern ohne einheitliches Layout gebunden. Zwischen den horizontalen Ansichten finden sich bei ihm nur gelegentlich Hochformate.
Das Betrachten von Bildern folgt immer einer bestimmten Dramaturgie. Wir können sie neben- und übereinander als Einzelbilder bzw. als Tableau oder filmisch als zeitliche Folge hintereinander betrachten. Steigert man das Abblättern auf 18-24 Bilder in der Sekunde, wird aus den Stehbildern ein bewegtes Bild, das Daumenkino.
Die Rom-Bilder setzen eine Besonderheit und Methodik ihrer fotografischen Arbeit fort, die weniger auf das isolierte Einzelbild als auf die gelungene Syntax der Bildfolge baut. Bereits ihre Diplomarbeit, die Bildersequenz inter esse 1985-87, ist als Portfolio zur Betrachtung hintereinander, nicht als Tableau zur gleichzeitigen Ansicht gedacht. Im Umfeld des Alexanderplatzes reflektiert Maria Sewcz inmitten der gespenstischen Kulissenwelt die Kälte und Bodenlosigkeit einer gescheiterten Utopie.
Auch in tagelauf (1996) folgt die Präsentation einer festgelegten Reihenfolge, wobei Hoch- und Querformate gleichermaßen in der Horizontale erscheinen als ein aus Bildpaaren zusammengesetzter Bilderfries. New York erscheint in ten day ways als ein Straßenlabyrinth in der Art von Piet Mondrians Komposition New York City II (1942/44). In Rom greift sie diese raumgreifenden Bildinstallationen wieder auf und ordnet römische Ansichtskarten für Touristen nach den Farben ihrer Rahmen in grün, blau, rot, gelb zu einem friesartigen Band.
Aus der Logik dieser visuellen Grammatik entwickelt sie neuerdings statische Videofilme. Ihre Wahrnehmung des Himmels über dem Park der Villa Massimo bezieht den eigenen Körper mit ein: Auf dem Rücken liegend bewegt sich die Kamera auf ihrem Brustkorb im Rhythmus des Herzschlags und des Atmens. Das Fotografieren wird zu einer somatischen Erfahrung.
Ein bewegtes Stillleben bildet der Blick aus einer Tempelanlage südlich von Rom, der flankiert wird vom Kopfstand der Künstlerin links, auf den rechts ein sonst schlafender Hund kurz reagiert.
Ein weiterer Film beobachtet von einer Bushaltestelle aus wie die traditionsreiche Vergangenheit der ewigen Stadt in Gestalt der Lateransbasilika vom lärmenden römischen Verkehrschaos der Gegenwart belagert wird.

Woody Allen beschreibt in einem Interview über seine Filmkomödie To Rome With Love das moderne Rom, wie es im Video von Maria Sewcz als tägliches Theaterstück festgehalten wird: „In Rom gibt es unglaublich viel Lärm und alle Menschen sind dort unglaublich lebendig. Sie laufen herum, sitzen in den Cafés oder auf den Treppenstufen, fahren wie die Wilden mit ihren Autos und Vespas durch die Gegend. … Sie sind ständig auf der Straße, schreien durcheinander, und dieser wahnsinnige Verkehr prägt diese wunderbare Stadt.“ (in: Kleine Zeitung, 1.9.2012)

Rede von Eckhart Gillen zur Ausstellungseröffnung  Roma–vm. 365/39/51 masw  in der Galerie Pankow,  Berlin 2012>

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